Umgang mit Muskelrelaxantien

Erstmals gibt es Leitlinien der ESAIC zum Umgang mit Muskelrelaxantien. Die recht kurze Leitlinie gibt 8 praxisrelevante Empfehlungen, die wir hier für Euch wiedergeben wollen. Wir immer gilt – im Zweifel die Originalpublikation lesen!

Hintergründe

Die Relaxometrie ist grundsätzlich bei jeder Anwendung von Muskelrelaxanzien empfohlen, da Wirkung und Wirkdauer unvorhersagbar sind. Laut dieser Arbeit ist die Prävalenz einer Restrelaxierung zum Zeitpunkt der Extubation bzw. im Aufwachraum bis zu 85%! Dies führt unter anderem zu Dyspnoe, pulmonalen Komplikationen sowie beeinträchtigten Schutzreflexen, was die Morbidität erheblich erhöht. Die klinischen Zeichen einer Restrelaxierung (z.B. Kopf für 5 Sekunden anheben) sind unzuverlässig (Link). Auch eine suffiziente Atmung ist kein Hinweis auf eine ausreichende Muskelkraft, da das Diaphragma als großer Muskel relativ zügig in seiner Funktion zurückkehrt, wenn das Relaxans abgebaut wird. Bei der Relaxometrie geht es uns nicht um das Diaphragma bzw. die Atmung, sondern um die Laryngopharyngealmuskulatur! Das bedeutet ein restrelaxierter Patient kann eine suffiziente diaphragmale Atmung aufweisen, hat aber dennoch keinen suffizienten Muskeltonus im Hals-Rachen-Bereich und wäre somit bei Extubation trotz adäquater Atmung gefährdet.

Bei der Relaxometrie werden im Verlaufsgebiet des N. ulnaris zwei Elektroden proximal des Handgelenks angebracht und der N. ulnaris 4x mit 2 Hz (= 2 Stimulationen/s) stimuliert (T1-T4, sog. TOF-Count) – es kommt zu Kontraktionen des M. adductor pollicis, welcher sehr gut mit den Laryngopharyngealmuskeln korreliert (um die geht es uns bei der Extubation, da diese den Atemweg offenhalten). Wird ein Muskelrelaxans verabreicht, so fallen die Reaktionen schwächer aus (d.h. jede Kontraktion wird immer schwächer; Fading) oder entfallen teilweise komplett (Beispiel: zwei Reaktionen = TOF-Count 2, keine Reaktion = TOF-Count 0). Intraoperativ wünschenswert ist ein TOF-Count von maximal 2, selbiges gilt für die Intubation. Das Gerät versucht, die vierte Kontraktion mit der ersten Kontraktion zu vergleichen (T4/T1 = TOF-Ratio). Sind beide gleich kräftig, so beträgt die TOF-Ratio 100%. Ist die vierte Kontraktion jedoch nur halb so stark wie die erste Kontraktion, so besteht eine TOF-Ratio von 50%. Ist die vierte Reaktion gar nicht mehr nachweisbar (z.B. tiefere Blockade), so kann die TOF-Ratio gar nicht berechnet werden und es wird ein TOF-Count (s.o.) angegeben. Für die Extubation wünschenswert ist eine TOF-Ratio von 90%, d.h. die vierte Kontraktion ist fast so kräftig wie die erste Kontraktion. Mit dem Post Tetanic Count (PTC) kann eine noch tiefere Blockade, die mit dem TOF nicht mehr quantifizierbar ist, sensibler erfasst werden; dazu kommt es zunächst zu einem tetanischen Reiz (50-100 Hz) gefolgt von Einzelstimulationen (1 Hz). Je mehr Reaktionen nachweisbar sind, desto oberflächlicher ist die Relaxierung. Die Erfassung des PTC macht Sinn bei Operationen, die eine tiefe Relaxierung mit Unbeweglichkeit des Patienten erfordern, z.B. Operationen an der Halswirbelsäule.

Die Empfehlungen im Detail

  1. Die Verwendung von Muskelrelaxantien zur Erleichterung der Intubation wird empfohlen
  2. Die Verwendung von Muskelrelaxantien zur Reduktion von Intubationsverletzungen am Pharynx bzw. Kehlkopf wird empfohlen
  3. Für die Rapid Sequence Induction (Link) wird die Verwendung von schnell wirksamen Relaxantien, nämlich Succinycholin (Dosis 1 mg/kg) ODER Rocuronium (Dosis 0,9-1,2 mg/kg) empfohlen
  4. Die Vertiefung der neuromuskulären Blockade wird empfohlen, wenn die Operationsbedingungen verbessert werden sollen
  5. Es gibt keine allgemeinen Belege, dass eine tiefe Relaxierung postoperative Schmerzen reduzieren oder allgemein Komplikationen verringern kann
  6. Die Nutzung von quantitativem Monitoring des n. ulnaris am m. adductor pollicis (also das „TOF“) wird empfohlen um eine Restblockade auszuschließen
  7. Die Antagonisierung mit Suggamadex wird für tiefe, moderate und flache Blockaden empfohlen
    • Tiefe Blockade = PTC > 1 und TOF 0
    • Moderate Blockade = TOF 1-3
    • Flache Blockade = TOF 4 und TOF-Ratio <0,4
    • Nur Rocuronium und Vecuronium sind mit Suggamadex antagonisierbar
  8. Die Antagonisierung mit Neostigmin wird nur bei fortgeschrittener Spontanerholung (TOF 4 und TOF-Ratio >0,2) empfohlen und die Relaxometrie soll bis zu einer TOF-Ratio >0,9 fortgesetzt werden

Grundsätzlich ist hier wenig Neues dabei und diese Empfehlungen entsprechen auch dem, was man lernen würde, wenn man sich ein aktuelles Lehrbuch kauft. Neu und ausgesprochen wichtig ist aber, dass es die Empfehlungen an sich gibt – denn jetzt hat niemand mehr eine Ausrede und die Inhalte gelten endgültig als fachlicher Standard.

Wie antagonisiert man konkret?

Natürlich gibt es auch hierzu genaue Dosierungen und viel Literatur. Besonders gut und praxisnahe ist das Protokoll von Thilen et al. aus 2023, das sich im Prinzip so zusammenfassen lässt:

  1. Neostigmin (Dosis 15-30 µg/kg) wird nur verwendet, wenn der TOF-Count 4 beträgt, also bei der „flachen“ Blockade. Extubiert werden darf erst nach 10 Minuten (Neostigmin braucht auch wirklich einige Zeit bis es wirkt – die „langsame“ Wirkung ist vielen Kollegen aber nicht so bewusst).
  2. Bei einem TOF von 0 aber PTC von >1 werden 4 mg/kg Sugammadex verabreicht und es kann nach frühestens 3 Minuten extubiert werden (+ TOF-Ratio >0,9)
  3. Bei einem TOF-Count von >1 werden 2 mg/kg Sugammadex verwendet, wiederum kann nach 3 Minuten (und TOF-Ratio >0,9) extubiert werden

Eine alternatives Protokoll besagt:

  1. TOF Ratio 0,4-0,9 – Antagonisierung mit Neostigmin (Dosis 15-30µg/kgKG)
  2. TOF 0 + PTC >1 – Sugammadex 4 mg/kg
  3. TOF >1 – Sugammadex 2 mg/kg

Und bei einem TOF von >0,9 wurde dann gar nicht antagonisiert. Sie hatten in der Studie damit keine Restblockade mehr (Yes! Patientensicherheit!) und sind sogar stolz darauf, dass sie viele Patienten gar nicht antagonisieren mussten. Nebenbei haben sie auch belegt, dass die Nutzung von Neostigmin sicher ist. Nebenbei haben sie ein bisschen Geld gespart – was in den USA sicher ein Thema ist.

Sugammadex ist ein „Geld-Thema“. Inzwischen ist es bei uns in Europa ja generisch (also der Patentschutz ist abgelaufen) und wird damit viel billiger. Vielleicht sind dem einen oder anderen auch die ganzseitigen Anzeigen in Anästhesie-Zeitschriften aufgefallen, dort wird es als das „neue Normal“ bezeichnet.

Ich persönlich sehe das auch tatsächlich so. Neostigmin hat doch zahlreiche Nebenwirkungen und sollte mit Glycopyrrolat (Robinul®) oder Atropin (CAVE: Geht ins Hirn – könnte ein zentrales anticholinerges Syndrom auslösen) kombiniert werden. Wirklich sinnvoll nutzbar ist es außerdem nur, wenn die Blockade oberflächlich ist und man Zeit hat.

Sugammadex hingegen hat ein relativ sicheres Nebenwirkungsprofil (wiewohl es die Wirkung von hormonellen Kontrazeptiva aufheben kann), wirkt schnell und zuverlässig und ist inzwischen nicht mehr allzu teuer. Daher für mich ganz klar die 1. Wahl.


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