Es gibt wieder einmal eine neue Leitlinie, die wir für euch zusammenfassen wollen: Die S1-Leitlinie Intraoperative klinische Anwendung von hämodynamischem Monitoring bei nicht- kardiochirurgischen Patient:innen. Inhalt ist im Wesentlichen die Blutdruckmessung und alles drum herum, also auch das erweiterte invasive Monitoring. Klingt erstmal nicht besonders spannend, aber es sind doch einige Perlen dabei – wir wollen für Euch die in unseren Augen interessantesten Punkte hervorheben. Die Leitlinie ist aber nicht besonders lange, ich würde daher stark empfehlen selbst einmal nachzulesen – vielleicht machen wir ja Appetit 🙂
Kernaussagen
- Oszillometrische Blutdruckmessung soll am Oberarm mit einer passenden Manschette auf Herzhöhe erfolgen.
- Intraoperativ soll das Messintervall auf 3 Minuten eingestellt werden.
- Es gibt zahlreiche Indikationen für die kontinuierliche RR-Messung, diese kann invasiv oder nicht-invasiv (Fingercuffmethode) erfolgen.
- Die arterielle Messung in der A. radialis ist der Goldstandard der invasiven Messung.
- Wenn die invasive Messung indiziert ist, soll sie vor Narkoseeinleitung etabliert werden da insbesondere um die Einleitung die Gefahr der Hypotension besonders groß ist.
- Korrekte technische Funktion („Nullen“, Dämpfung, Höhe des Druckabnehmers) der arteriellen Messung muss regelmäßig überprüft werden.
- Die Lage des Druckabnehmers ist wichtig!
- Referenzniveau ist „Herzhöhe“ – grundsätzlich, ABER
- Sollte sich der Kopf höher befinden als Herzniveau, ist entsprechend zu korrigieren – der Druckabnehmer soll dann eben auf „Kopfhöhe“ gehängt werden (siehe Beach Chair, NCH).
- Der Blutdruck soll nach dem mittleren arteriellen Druck (MAP) gesteuert werden, der MAP soll generell > 65 mmHg betragen (niemals darunter, manchmal auch höher – z.B. Laparoskopie oder Beach Chair).
- Herzzeitvolumen/Schlagvolumen sollen individuell gestaltet werden und es gibt keine allgemeingültigen Empfehlungen.
- Die Volumenreagibilität bei beatmeten Patienten soll mit dynamischen Vorlastvariablen (also Schlagvolumenvarianz, Pulsdruckvariation) erfolgen oder – falls nicht verfügbar – mit einer Volumenchallenge. Der zentrale Venendruck soll nicht mehr verwendet werden.
- Bei therapierefraktärer hämodynamischer Instabilität soll intraoperativ ein Herzecho gemacht werden (TTE bzw. TEE). Dies kann auch zur Steuerung der Therapie verwendet werden.
- Die Urinausscheidung soll nicht zur hämodynamischen Therapiesteuerung verwendet werden.
- Bei Verdacht auf Hypoperfusion oder unzureichende Gewebsoxygenierung soll Lactat bestimmt werden.
Praktische Anmerkungen
- Die Technik muss funktionieren, die falsche Anwendung von RR-Manschetten bzw. falsche Größenwahl ist eine häufige Fehlerquelle – leider auch unter Profis. An meinem Arbeitsplatz haben wir alle Größen verfügbar, aber die Faulheit ist ein Hund. Da die Messwerte doch erheblich abweichen können zahlt es sich wirklich aus, die passende Größe anzulegen. Das Messintervall von 3 Minuten kommt mir sehr kurz vor (bei uns ist die Grundeinstellung der Monitore z.B. 5 Minuten). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass zu kurze Messintervalle (1-2 Minuten) oft zu Fehlern führen, insbesondere wenn die Messung lange dauert oder andere Störfaktoren mitspielen. Außerdem sollte man bedenken, dass Zugänge an der Extremität dann durchaus problematisch sein können. Und irgendwann kommt man auch an den Punkt, wo eine kontinuierliche Messung zu bevorzugen wäre.
- Die Fingercuff-Messung ist nicht überall verfügbar, man hört auch nicht unbedingt so gute Erfahrungsberichte. Klar wäre das eine tolle Variante für Patienten, bei denen man zwar kontinuierlich messen will, aber gleichzeitig nicht invasiv sein will (z.B. Noradrenalingabe in kleiner Dosierung). Es wird noch Einiges an technischer Entwicklung notwendig sein, wirklich uneingeschränkt praxistauglich ist die Methode nämlich noch nicht.
- Zur Messung in der A. radialis muss man nicht viel sagen. Nebenbemerkung dazu übrigens: Der berüchtigte „Allen-Test“ ist komplett obsolet (Link)!
- Ein extrem wichtiger und oft vernachlässigter Punkt ist die korrekte Höhe des arteriellen Druckabnehmers. Herzhöhe ist grundsätzlich bekannt – die Anpassung auf „Hirnhöhe“ sieht man allerdings nicht immer (z.B. bei neurochirurgischen OPs oder Eingriffen an der Schulter). Mega wichtig! Bei Kopftieflage muss man natürlich nicht anpassen, da ist wiederum das Hirnödem (wegen des schlechteren venösen Abflusses) ein Thema. Anders bei Kopfhochlage (Beachchair, halbsitzend, o.Ä.): Hier gibt’s wirklich grausliche Fallberichte über cerebrale Minderperfusion mit den entsprechenden Schäden (Link). Leicht vermeidbar und wenige Zentimeter machen einen Unterschied! MAP mind. 80 mmHg bei Beach Chair, wenn am OA gemessen (alternativ bei invasiver Messung MAP 65 mmHg, wenn auf Höhe des Meatus Acusticus Externus ~ Circulus Arteriosus Cerebri abgeeicht)
- >65 MAP ist wirklich nicht neu – das sollte sich jeder mehrfach hinter die Ohren schreiben. Wichtig ist aber zusätzlich, dass man bei adaptierten Hypertonikern an den „individuellen“ Blutdruck denken sollte. Wenn der Patient langjährig an hohen Blutdruck adaptiert ist, dann braucht er das auch intraoperativ. MAP >65 kann also auch zu wenig sein! Ich strebe bei Hypertonikern MAP 70-80 mmHg an.
- Zum erweiterten Monitoring sage ich nicht viel. Manche Anästhesiemonitore können aus einer normalen Arterienkurve dynamische Vorlastvariablen bestimmen und werfen einen Wert aus. Das ist super! Aber auch ohne die Funktion erkennt man meist den typischen „Swing“ in der Pulskurve!
- Hämodynamik-Monitore wird es nicht so oft im OP geben. Wenn man das hat ist es natürlich super für längere oder komplizierte Fälle. Für die Routineanwendung ist es aber wohl viel zu teuer. TEE sollte in der Theorie fast überall verfügbar sein, die Frage ist eher ob jeder Anästhesist damit umgehen kann. Wenn man eins hat ist es ein extrem sinnvolles Tools, da bieten sich dann die diversen Kurse für perioperative Echokardiographie an. TTE ist perioperativ sinnvoll – intraoperativ zu schallen ist – wenn man überhaupt zum Patienten kommt – oft sehr schwer. Meiner Meinung nach sollte aber jeder Anästhesist grob in der Lage sein mit TTE abzuchecken, ob z.B. die Pumpfunktion einigermaßen passt oder ob höhergradige Vitien bestehen.
- Die Empfehlung zum Urin find ich nice – es schein tatsächlich Leute zu geben, die meinen es ist eh alles ok solange der Patient pinkelt. Dass das nicht sinnvoll ist sollte jedem klar sein. v.a. da Patienten häufig extrem Stresshormone ausschütten (siehe Adiuretin!). Umgekehrt sollte man aber aufpassen, wenn Patienten trotz adäquatem Blutdruck keine Ausscheidung haben! Da muss man einfach mal rundum checken (z.B. verstopfter Harnkatheter).
- Regelmäßige BGA-Kontrollen sollten bei langen Punkten eigentlich Standard sein. Es gibt viele Gründe wieso Patienten ein erhöhtes Lactat haben können. Muss man immer in Gesamtschau beurteilen.
- Die Leitlinie sagt auch bisschen was zu spacigen Methoden, etwa zur Beurteilung der Mikrozirkulation. Das ist wirklich experimentell und daher für uns hier gar nicht relevant. Von der Theorie her eine echt geile Sache, aber eben noch sehr weit vom klinischen Alltag entfernt.
Exkurs – MPP
Im klinischen Alltag wird häufig der mittlere arterielle Druck (MAP) als Surrogat für eine ausreichende Organperfusion angesehen. Dies spiegelt sich z.B. auch in den Sepsisleitlinien (hier) wieder. Das Ganze hat jedoch eine gewaltigen Haken, der sich mit physiologischem Hausverstand simpel erklären lässt. Das Konzept des MAP berücksichtigt nämlich nicht den Gegendruck, der von einem Organ ausgeht. Des weiteren handelt es sich bei MAP nur um einen Makroparameter, der leider wirklich nichts über eine ausreichende Perfusion und Oxygenierung auf zellulärer Ebene aussagt, siehe hier.
Was heißt das im Speziellen? Man nehme einen Patienten mit schwerem SHT und erhöhtem ICP. Man könnte nun argumentieren, dass der Patient bei einem MAP von 70 mmHg eine ausreichende Organperfusion genießt. Vergessen wird hier aber der Gegendruck des Organs von Interesse, in dem Fall das Gehirn. Hat der Patient nämlich einen ICP von 30 mmHg, so beträgt der effektive Organperfusionsdruck (Mean Perfusion Pressure ~ MPP) lediglich 40 mmHg. Es besteht somit eine Ischämie.
Nächstes Beispiel: der Patient mit der akuten Herzinsuffizienz. Man nehmen an, der MAP beträgt 65 mmHg. Alles gut, oder? Aber wieso hat der Patient in der aBGA ein Lactat von 4 mmol/l? Hm, sicherlich flüssigkeitsbedürftig… Also ein weiterer Liter i.v. und Kontrolle des Lactats nach 2h. Komisch, es ist bei 4,2 mmol/l… Verdammt, was stimmt hier nicht? Auch hier ist die Lösung einfach. Eine ZVD-Messung zeigt einen Wert von 20 mmHg (das Herz ist insuffizient). Das ist der Gegendruck, der der Perfusion des Herzens und des restlichen Körpers entgegenspielt. Dies erklärt das Lactat. Denn der MPP beträgt hier ja nur 65-20 = 45 mmHg. Der Nierenschaden bahnt sich an! Die Lösung? Entweder den MAP erhöhen oder den ZVD senken (z.B. Furosemid, Glyceroltrinitrat). Ja, der Patient braucht nicht Flüssigkeit, sondern tatsächlich eine Diurese.
Beispiel 3. Ein Patient unterzieht sich einer Laparoskopie. Der MAP wird bei 65 mmHg gehalten, doch post-OP fällt ein akuter Nierenschaden auf. Hm, wie konnte das passieren? Auch hier ist die Antwort simpel. Bei der Laparoskopie wird der intraabdominelle Druck auf ca 14 mmHg erhöht. Das ist somit der Gegendruck, welcher die Perfusion von u.a. der Nieren beeinträchtigt. Bei einem MAP von 65 mmHg beträgt der MPP der Niere ledliglich 65-14 = 51 mmHg. Wen wundert da noch der akute Nierenschaden? Aus diesem Grunde führe ich Patienten während einer Laparoskopie mit einem MAP von mindestens 80 mmHg. Es ist nun mal wichtig, basale Physiologie zu verstehen. Ein zu niedriger MPP korreliert nämlich mit akuten Nierenschäden auf der ICU (Link) sowie mit der Mortalität (Link).
Beispiel 4: Schulter-OP in Beach Chair Lagerung. RR-Manschette am Oberarm, MAP ganze OP hindurch zwischen 60-70 mmHg. Post-OP fällt bei Extubation ein Neurodefizit aus (Hemiparese, Pupillendifferenz). Wie kann das sein? MAP hat doch gepasst, oder? Hier wurde leider die hydrostatische Differenz missachtet, da im Sitzen eine Differenz des MAP zwischen Oberarm und Gehirn von ca 20 mmHg besteht. Heißt im Klartext: das Gehirn hatte lediglich einen MAP von 40 mmHg, was eine Ischämie bedingte. Das ist kein Irrsinn, sondern ist eine gut bekannte NW von Beach Chair (Link).
Was lernen wir also daraus? Nicht der MAP ist für die Organperfusion relevant, sondern die Formel MPP = MAP – Gegendruck (z.B. ICP, ZVD…). Selbst im Schock korreliert ein normaler MAP nicht mit einer suffizienten Organperfusion, da z.B. bei einer Cyanidvergiftung ein zytotoxisches Schockgeschehen besteht, das nicht von Vasopressoren oder Flüssigkeit profitiert, sondern von den Gegenmitteln wie Hydroxocobalamin. Es handelt sich somit nur um einen Surrogatparameter, der möglicherweise auf eine suffiziente Zellversorgung hinweist. Hinweise für eine optimale Mikroperfusion und Oxygenierung könnten z.B. Nahinfrarotspektroskopie (NIRS), peripherer Pulsationsindex (PPI), Lactat, Rekapzeit oder ScvO2 sein.
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